Die Überzeugung des Lehrers Wetekamp, dass selbsttätiges, handelndes Lernen menschlicher und effektiver ist, als bloßes Auswendiglernen von Fakten, hat ihre Wurzeln offenbar in den guten Erfahrungen der eigenen Schulzeit. Wetekamps hatte in der Lippstädter "Realschule 1. Ordnung" u.a. Unterricht bei Ostendorf, Müller und Buddeberg. Die Begegnung mit der damals noch reichhaltigen Landschaft um seine Heimatstadt herum, müssen ihn geprägt haben. Müller, ein hervorragender Naturwissenschaftler, legte Wert darauf, dass die Schüler z.B. im Biologieunterricht genau und präzise zeichneten und beobachteten, denn nur was man gezeichnet hat, hat man gesehen. [mehr zu Hermann Müller] Schulreformbewegung im Aufbruch: weg von der "preußischen Paukschule: Als Mitglied im Preußischen Abgeordnetenhaus war Wilhelm Wetekamp damit beauftragt, über die aktuelle Schulreformbewegung in den skandinavischen Ländern zu berichten. Die "Dänische Gesellschaft" bereitet eine neue Schule vor. Wetekamp berichtet darüber und stellt folgende Aspekte in den Vordergrund:
Textauszüge:
"Die Begründer der neuen Schule gehen von der
Überzeugung aus, daß die bestehenden Schulen zunächst ihre Zöglinge zu
einer zu zeitigen Wahl der Studienrichtung zwingen, daß sie ferner zu
Gunsten altsprachlicher Studien die Bedürfnisse der Gegenwart zu sehr
vernachlässigen und "die Fähigkeit des Schülers, sich grammatikalische
Kenntnisse anzueignen, höher stellen als seine praktischen Fertigkeiten,
thatkräftige Selbstständigkeit und reife Urteilskraft..."
Demgegenüber stellt die "Schule der Dänischen Gesellschaft" die Forderung
auf, daß der Unterricht für alle Schüler bis etwa zum 15. Lebensjahr
gemeinsam sein muß, daß besonders auf dieser Stufe die praktische
Thätigkeit gepflegt werden muss, und daß es vor allem darauf ankommt, nicht
Menschen zu erziehen, die mit den Anschauungen des Altertums genau bekannt
sind, von den Verhältnissen der Jetztzeit und der großen Bedeutung der
Naturwissenschaften für dieselbe wenig oder gar nichts wissen; daß man in
erster Linie von einem gebildeten Menschen verlangen muß, daß er die
nötigen Grundlagen hat, um die Zeit zu verstehen, in der er lebt,(-)"
Quelle: Pädagogisches Archiv, Heft 3,
1900
"Realgymnasium zum heiligen Geist": Aus der Geschichte der Schule: "Bei der Steigerung der Industrialisierung fanden die Lateinschulen in den Elternkreisen eine immer wachsende Gegnerschaft [...]: , Wozu brauchen unsere Söhne Latein, wenn sie einen praktischen Beruf ergreifen? Sie sollen neuere Sprachen lernen, und zwar sprechen lernen, in Mathematik und Naturwissenschaften besser auf ihren künftigen Beruf als Kaufleute oder Techniker vorbereitet werden.' So äußerten sich viele Väter, und die größeren Städte ließen sich dadurch bestimmen, lateinlose Schulen zu gründen, die in 6 Jahren zur mittleren Reife führten und in 9 Jahren zum Studium eines technischen Faches berechtigten. Die Schwierigkeit dieser lateinlosen Realschulen war aber die, daß sich die Eltern schon, als ihr Kind neun Jahre alt war und seine wissenschaftliche oder technische Begabung noch nicht erkennbar war, entscheiden mußten, ob sie es auf eine lateintreibende oder lateinlose Schule schicken wollten. Aus diesem Dilemma erwuchs das sogenannte Frankfurter Schulsystem, das Anfang des Jahrhunderts auch am Heiligen Geist eingeführt wurde. Die Entscheidung, ob Gymnasium oder Realgymnasium, wurde dadurch um zwei Jahre verschoben, so daß der Unterbau (also Sexta und Quinta)'. des Gymnasiums lateinlos war. In der Tertia wurde dann mit Latein begonnen, und erst in der Untersekunda trat eine Gabelung ein in einen realen Zweig mit weniger Latein, dafür aber mit Englisch, und einen gymnasialen Zweig mit Griechisch und weiterer starker Betonung des Lateinischen. (-)" aus: Hans-Georg Gadamer – eine Biographie (Jean Grondin, Mohr-Siebeck, 2000, S. 41,42) |
Selbstbetätigung als neues pädagogisches Prinzip - der Unterricht wird handlungsorientiert.
Wilhelm Wetekamp: "Die Erziehung zur Selbständigkeit ist aber nicht durch Anhäufung von Wissen, sondern nur dadurch zu erzielen, daß wir (-) die Schüler zur richtigen Arbeitsweise erziehen und ihnen auf allen Stufen des Unterrichts Gelegenheit geben, durch möglichst ausgedehnte Selbstbetätigung Schaffensfreude und Zutrauen zur eigenen Kraft zu gewinnen." |
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"Warum
ist z. B. den Schülern bei Anfertigung der mathematischen
Klausurarbeiten nicht die Benutzung eines Formelheftes gestattet?
Die mathematische Bildung zeigt sich doch wahrlich nicht im
gedächtnismäßigen Wissen von Formeln, sondern in der Fähigkeit, sie
richtig anzuwenden". Die Schule wird nach dem sog. "Frankfurter Lehrplan" als Reformschule organisiert [mehr dazu] und wurde vorwiegend von gutsituierten Schülern besucht, etwa die Hälfte davon jüdischer Abstammung. In der Zeit von 1919 bis 1931 hatte die Schule neun Gymnasialklassen (ca. 40 Schüler pro Klasse) und drei Vorschulklassen. Wetekamp richtete sog. Schülervereine ein, Arbeitsgemeinschaften mit unterschiedlichen Schwerpunkten (Ruderverein, Turnerverein, Stenografischer Verein, Literarischer Verein, Schülerorchester, Pfadfinderkorps ). Entsprechend seiner Vorstellung, dass zur Selbsttätigkeit auch Selbstverantwortung gehört, führte Wetekamp an seiner Schule erstmalig in Preußen die Schülermitverwaltung ein. Die Schule beginnt mit 3 Lehrern, 34 Realgymnasium-Schülern und 23 Vorschülern (entspricht der heutigen Primarstufe). Wetekamp unterrichtet im ersten Jahr 15 Wochenstunden. Als Wetekamp 1906 die Leitung der Schule übernimmt, sind an der Schule 11 Lehrer beschäftigt. Die Schülerzahl ist angewachsen auf 139 Realgymnasium- Schüler und 148 Vorschüler. Das Bild zeigt eine Vorschulklasse beim "Formen" im sog Werkunterricht. Formen mit Plastilin und Basteln mit einfachem Material (Garnwickeln, Streichholzschachteln) gehört zum Prinzip der Wetekampschen Pädagogik. "Formen" ist hier wörtlich mit "Begreifen" verbunden. Es lehrt, die Umwelt durch Nachgestalten bewusst wahrzunehmen und trainiert den "Muskelsinn" (Feinmotorik)
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"Auf eine Gefahr, die dem Werkunterricht neuerdings zu drohen scheint, sei an dieser Stelle noch aufmerksam gemacht. Es wird vielfach geglaubt, daß man Werkunterricht treibe, wenn man zeichnen und formen läßt. Das Zeichnen und Formen macht noch nicht den Werkunterricht, sie sind nicht Endzweck, sondern nur Mittel zu dem Zwecke, einmal den Muskelsinn zu üben und dadurch klare Anschauung zu vermitteln, und dann auf Grund dieser klaren Begriffsbildung intensiv geistige Ausbildung zu betreiben. Der Werkunterricht ist auch nicht an die körperliche Tätigkeit durch Formen, Zeichnen usw. gebunden. Auch mit geistigem Material - und das wird auf den höheren Stufen immer mehr der Fall sein müssen - kann Werkunterricht betrieben werden; seine Hauptaufgabe ist es, durch zielbewußte Selbstbetätigung die Schüler zu selbständigem Arbeiten zu erziehen." (Fotos und Zitate aus Wetekamp "Selbstbetätigung und Schaffensfreude in Erziehung und Unterricht: Mit besonderer Berücksichtigung des ersten Schuljahres.", 3. Auflage, Schöneberg/Berlin, September 1911.)
"Damit jede Störung des Unterrichts unmöglich gemacht werde, hat der Lehrer (-) darauf zu halten:
a) daß alle Schüler (-) gerade (-) und in Reihen hintereinander sitzen.
b) daß jedes Kind seine Hände geschlossen auf die Schultafel legt.
c) daß die Füße parallel nebeneinander auf den Boden gestellt werden.
Die Kinder haben die betreffenden Lernmittel in 3 Zeiten heraufzunehmen und hinwegzutun. Gibt der Lehrer. (-) zum Heraufnehmen des Lesebuchs (-)das Zeichen, 1', dann erfassen die Kinder das unter der Schultafel liegende Buch; beim Zeichen ,2' erheben sie das Buch über die Schultafel; beim Zeichen ,3' legen sie es geräuschlos auf die Schultafel nieder, schließen die Hände und blicken den Lehrer an. Alle breiten Auseinandersetzungen und Reden müssen wegfallen; hier muß ein Wink des Auges (-) oder der einzige (-) Ausruf: ,Klasse -Achtung" genügen, um die gesamte Schulordnung herzustellen."
Anker: Die_Dorfschule von 1848-1896
"...wohl kaum (eine) Unterrichtsverwaltung
(hat je) eine solche Bereitwilligkeit gezeigt, Bewegungsfreiheit und
Gelegenheit zu Versuchen auf pädagogischem Gebiete zu geben, wie es in den
letzten Jahren der Fall gewesen ist. Wenn das Erreichte trotzdem noch nicht
dem entspricht, was man erwarten möchte (-) so hatte der Vertreter der KgI.
Staatsregierung bei den Landtagsverhandlungen im Jahre 1908 sicher wohl zum
Teil recht, wenn er hervorhob, daß es manche Lehrer gibt, die zu sehr in
das Alte eingelebt sind, um sich noch in neue Bahnen finden zu können; er
hätte vielleicht noch hinzufügen können, daß es sich hin und wieder auch
bei Schulaufsichtsbeamten so verhält, die dann wiederum auf Lehrer hemmend
einwirken, welche gern vorwärts arbeiten möchten...
Wetekamp in "Selbstbetätigung
und Schaffensfreude in Erziehung und Unterricht: Mit besonderer
Berücksichtigung des ersten Schuljahres." S.50, 3. Auflage
Selbstbetätigung und Schaffensfreude in Erziehung und Unterricht - Mit besonderer Berücksichtigung des ersten Schuljahres. Das Werk erschien in mehreren Auflagen und gilt als wichtiger Leitfaden zur Schulreformbewegung, in deren Mittelpunkt die Arbeitsschule und der Werkunterricht stand. In seiner 3. Auflage wird es zu einem flammenden Plädoyer für eine neue Schule und ein menschliches Lernen. In einem umfangreichen Anhang stellt der Lehrer Paul Borchert aus der Vorschulstufe einen vollständigen Lehrplan für die erste Jahrgangstufen vor. Mit großem Enthusiasmus will Borchert die Leser von der neuen Unterrichtsweise überzeugen und belegt die Lernerfolge mit Abbildungen und Schriftproben der Schüler. Nach harscher Kritik am bestehenden System fordert er: "Kollegen, die Sie mit mir gleichen Sinnes sind, kommen Sie zu uns herüber. Helfen Sie uns die Arbeitsschule weiter ausgestalten und beweisen, daß wir mit unsern hochgepriesenen Lern- und Drillschulen, mit der Knechtung des nach Freiheit dürstenden Menschengeistes und seiner durch die ganze Schulzeit betriebenen systematischen Entmündigung doch noch nicht am Ende aller Entwicklung angekommen sind." "Spielen gehört nicht in die Schule!" "... ich (empfand) es als einen lächerlichen Angriff gegen unser ernstes Streben und unsere Arbeitsschule, wenn mir gelegentlich eines Vortrages ein widerstrebender Herr zurief: Wie formen Sie denn nun: Freude, Glück, gut, schön, edel? Sie wollen doch alles formen und zeichnen, um die Begriffe zu klären. - Keine Antwort ist da auch eine Antwort. Und ähnlich verhält man sich klugerweise denen gegenüber, die von der hohen Warte gänzlicher Unberührtheit und Unkenntnis unsere Arbeit abtun mit dem verständnisarmen Wort: "Spiel gehört nicht in die Schule." Sie haben keine Ahnung von dem Frühling, der eben unsere Schulzimmer mit Leben, Kraft und Freude füllt."
"Eingehen auf die Interessen des Kindes als Geheimnis unserer Unterrichtsweise...." (S.53)
Seite aus dem Lehrplan für das 1. Schuljahr.
Der Lehrplan baut auf "Konzentration
aller Arbeitstätigkeiten um einen Gegenstand als Hauptgesichtspunkt der
Stoffauswahl" auf. So ergeben sich
Unterrichtseinheiten, bei denen jeweils ein Thema
("Konzentrationsgegenstand"), auf vielfältige Weise bearbeitet werden soll.
Beispiel:
"Abschnitt XIII: Reifen, Ring, Rad und Wagen. Mit Plastilin
Räder und Reifen formen, mit Stäbchen Alltagsdinge nachlegen, freies
Zeichnen von Geschichten um "Fritz Strichmann" z.B. beim "Reifentreiben.
Ergänzt wird durch Lieder, Erzählungen, Rätsel und das "Kopflesen": Lesen
selbstgeschriebener Wörter, die zuvor mit den Stäbchen (wichtiges
Lernmaterial ebenso wie Plastilin) gelegt werden. Dazu kommt natürlich das
Rechnen: Ziffern schreiben im Zahlenraum bis 20 und der
Religionsunterricht. Themen: "Pflichten guter Kinder gegen ihre Eltern,
Gehorsam, Wahheitsliebe. "
"...daß (das Kind) von selbst auf
Selbstbetätigung hindrängt und nicht immer bevormundet sein will,
das zeigt sich am besten in seinem Verhalten gegenüber
kompliziertem mechanischen Spielzeug, das nach dem rasch
vorübergehenden ersten Freudenrausch erst dann wieder von ihm lieb
gewonnen wird, wenn es zertrümmert ist und die einzelnen Teile zu
allem möglichen gebraucht werden können." (W.
Wetekamp) Schulung der Wahrnehmungsfähigkeit und Feinmotorik ("Muskelsinn") durch genaues, angeleitetes Beobachten und (Nach-) Formen mit Plastilin. Positive Rückkopplung durch kritisches Betrachten der Ergebnisse. Wetekamp entwickelte mit dem "Werkunterricht" eine moderne Didaktik. |
Zehn pädagogische Grundsätze zur Arbeit des "W.v. Siemens-Realgymnasiums. Der erste Grundsatz muss sicher vor dem Hintergrund der Zeit verstanden werden. (siehe: "Anweisung eines Schulrates")
Schüler muss man in Freiheit dressieren!
Hinter zu straffer äußerer Disziplin verbirgt sich oft Groll, Auflehnung und Widersetzlichkeit. wahre Disziplin muss aus dem Inneren kommen. Sie kann nur in Freiheit gedeihen.